Am 25. Januar ist die ForuM-Studie „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ erschienen.
Diese Studie wird unsere Kirchengeschichte, unsere persönliche und die der Institution, in ein Vorher und Nachher teilen. Denn sie lässt die zu Wort kommen, die wir so oft nicht ausreichend gehört haben: Die Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Sie haben großes Leid erfahren.
Dafür, dass sie zur Mitarbeit an der Studie bereit waren, gebührt ihnen großer Respekt und Dank.
Was nun auf mehr als 800 Seiten dokumentiert steht, räumt mit unseren Mythen auf und bringt unser Selbstbild zum Einsturz. Unser Selbstbild, dass in unseren Räumen sexualisierte Gewalt keinen Platz hat und Null-Toleranz gegenüber den Tätern gilt. Dass wir flache Hierarchien haben, sexualisierte Gewalt nur in Einzelfällen vorkommt und wir schon weit sind in Prävention und Partizipation Betroffener.
Stattdessen zeigt die Studie, dass es bis heute wirkmächtige Strukturen und Faktoren in der evangelischen Kirche gibt, die die Anbahnung und Durchführung von sexualisierter Gewalt unterstützen: Ein ungeklärtes Verhältnis von Nähe und Distanz und ein übergroßes Harmoniebedürfnis, die zugleich machtvolle Rolle des Pfarramts und patriarchaler Strukturen (die Täter waren fast ausschließlich männlich), ein diffuser Seelsorgebegriff, undurchsichtige Verantwortlichkeiten durch die Vielzahl der Landeskirchen und Körperschaften sowie das Interesse der Institution, sich selbst zu beschützen. In ihrem positiven Bild von Kirche war für viele – auch für mich – schwer vorstellbar, was geschah und geschieht. Es spielte den Beschuldigten in die Karten, dass nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Und so wurde, wenn eine betroffene Person endlich über die erlittene Gewalt sprach, manchmal nach jahrzehntelangem Schweigen, bagatellisiert, verschwiegen, verschleppt, gedroht. Und den Tätern sollte dann auch noch vergeben werden.
Ich bin seit bald 30 Jahren Pastorin in dieser Kirche. Ich habe als Kind und Jugendliche wunderbare Erfahrungen in und mit dieser Kirche machen dürfen. Ohne eigenes Verdienst – ich habe einfach Glück gehabt. Aber mit mir, neben mir sind andere verwundet worden, ohne dass ich das wahrgenommen habe. Konnte ich es nicht sehen, wollte ich es nicht? Und sind meine persönlichen guten Erfahrungen noch etwas wert, jetzt, wo wir sehend geworden sind?
Ich und so viele mit mir sind doch einmal angetreten, um Leben und ein vertrauensvolles Miteinander zu ermöglichen – warum ist das trotzdem zu oft nicht gelungen?
Ich möchte Fehler wahrnehmen und Schuld anerkennen. Ich möchte, dass die Kirche, und die bin ich auch mit meinem Gesicht und meinem Leben, Buße tut. Dazu gehören der ehrliche Blick auf Fehler und Versäumnisse in der Kirche, das Klären der Verantwortung und die Umsetzung von Konsequenzen. Dazu gehören das Hören und Ernstnehmen der Betroffenen und ihre echte Beteiligung an allen Schritten, die jetzt zu tun sind. Eine angemessene Entschädigung und die Sorge für Prävention und Aufarbeitung auf allen Ebenen.
Wir fangen nicht bei Null an, einiges ist begonnen: Wir haben eine gut aufgestellte Fachstelle und Interventionspläne. Viele Kirchenkreise haben oder werden Schutzkonzepte zur Prävention sexualisierter Gewalt verabschieden. Die Schulungen der Mitarbeitenden laufen an. Die gemeinsame Vereinbarung zwischen der Evangelische Kirche in Deutschland, der Diakonie und der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs ist unterschrieben; die regionalen Aufarbeitungskommissionen sind auf dem Weg.
Die Studie mag als Gutes bewirken, dass die Notwendigkeit dieser Maßnahmen allen noch einmal deutlich geworden ist. Denn es ist auch noch viel zu tun, um alte Strukturen und eingeübte Denkmuster aufzubrechen.
Wir werden als Kirche daran gemessen werden, mit welcher Konsequenz und wie schnell wir dafür sorgen, dass wir sind, was wir sein wollen: Ein sicherer Raum, in dem Menschen etwas von dem großen Ja Gottes zu ihnen erfahren.