75 Jahre Grundgesetz
Der Mannheimer Historiker Dr. Tim Müller war eingeladen, um vor dem Hintergrund der Staatsgründung vor 75 Jahren zu sprechen: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, die zweite deutsche Demokratie, wurde genau vier Jahre nach der Kapitulation des Deutschen Reiches und dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes am 8. Mai 1949 verabschiedet und am 23. Mai verkündet.
Müller erinnerte in seinem Vortrag an die Demokratiewerdung und skizzierte die großen Entwicklungslinien seit der ersten Beratung der vier Mütter und 61 Väter des Grundgesetzes am 1. September 1948. Von vornherein wurde die Menschenwürde, die sich dann auch im Artikel 1 niederschlug, gemeinsam mit den darauf aufbauenden Grundrechten in den Mittelpunkt gerückt. Dies stellte eine Selbstverpflichtung dar, die für diese Demokratie von Anfang an da war und an der sich die Realität immer wieder, auch heute, orientieren, messen und kritisieren lassen müsse.
Eine Verfassung allein stelle noch keine Demokratie dar und es gab in der politischen Praxis im Schatten des Kalten Krieges und unter Aufsicht der alliierten Siegermächte viel zu lernen. Demokratie werde letzten Endes von Menschen gemacht. Und ging der Vortrag von der Ideengeschichte in die Praxis über: Demnach benötige Demokratie Konflikte, welche einer weiteren wichtigen Zutat – dem Bürgersinn – nicht entgegenstehen: Bürger fragen demnach nicht lediglich, was der Staat für sie tut, sondern bringen sich aktiv in Politik und Zivilgesellschaft ein.
Als weiteren Erfolgsfaktor der bundesdeutschen Demokratie benannte Müller die Erinnerungskultur, die die eigene Geschichte von Vernichtungskrieg und Völkermord als Teil der demokratischen Kultur angenommen hat und aufarbeitet. Dies steuere viel zur Begründung der Menschenwürde als Alltagswert bei. Erinnerungsarbeit lokaler Initiativen, Gedenk- und Dokumentationsstätten, die oftmals auch individuelle Schicksale in den Blick nehmen, benannte er als Bastion der Menschenwürde.
Müllers Appell lautete: „Wir alle wissen, wenn die Menschenwürde angetastet wird. Wenn es nicht mehr Recht und Ordnung oder was auch immer ist, was im politischen Konflikt verhandelt wird, sondern wenn die Würde von Menschen verletzt wird, wenn sie entwertet werden. Wir spüren es sofort. In der Politik wie im Alltag. Und im Alltag ist unser Mut gefragt. Mut, Zivilcourage, Eintreten für die Menschenwürde – das ist von jedem von uns gelebte Demokratie.“