Vom Wert unserer Demokratie

Nachricht Norden, 03. Oktober 2024

Tag der Deutschen Einheit in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld

„Wer kann inbrünstiger als ein Geflüchteter oder eine Vertriebene die biblische Einsicht mitsprechen: Wir haben hier keine bleibende Stadt?“, sagte Regionalbischöfin Sabine Schiermeyer in ihrem Vortrag zum Tag der Deutschen Einheit in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld.
„Alle, die in der Barackenkirche oder später in der Gnadenkirche Tidofeld gesessen haben, wussten das. Sie wussten tiefer als andere, dass sie Teil eines wandernden Gottesvolkes sind, das hier auf der Erde nie ganz zuhause sein kann. Und das sich trotzdem unter neue und alte Glockentürme scharrt und Ausschau hält nach einer Zukunft und einer Ewigkeit.“

Die Regionalbischöfin des Evangelisch-lutherischen Sprengels Ostfriesland-Ems sprach am Tag der Deutschen Einheit in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld über das Thema „Wir haben hier keine bleibende Stadt – was bedeutet der Glaube in den Erfahrungen von Flucht, Verlust und Neubeginn?“

Kirche als Anker eines Heimatgefühls

In ihrem persönlich-theologischen Impuls zeigte sich die Regionalbischöfin besonders berührt von der Ausstellung der Dokumentationsstätte: In ihr entdeckte sie die Lebensgeschichte ihrer Nachbarin aus Bad Essen, bei der sie als Kind ein- und ausgegangen ist. Unter der Überschrift „Wir haben hier keine bleibende Stadt“ aus dem Hebräerbrief berichtete sie über ihre zahlreichen persönlichen Begegnungen mit Heimatverlust und Neubeginn, auch bei ihrer Nachbarin. Die Bedeutung der Möglichkeit zur freien Ausübung des Glaubens und die Notwendigkeit und Verbindlichkeit von Kirchräumen, ob wie im Vertriebenenlager Tidofeld zunächst als Provisorium oder ab 1961 als Stadtteilkirche, sei unmittelbar mit der Menschenwürde verbunden.

„Schrecken und Schuld brauchen Gedächtnisorte, um sich nicht wiederholen zu müssen und uns Gegenwärtige zu mahnen, was Geflüchtete, Menschen, auch heute zum Überleben brauchen. Sie brauchen es, dass wir ihre Würde respektieren. Sie brauchen einen sicheren Ort. Sie brauchen einen Raum, wo das Leben gefeiert und Trauer und Schuld ausgedrückt werden und wo sie, wenn sie das möchten und brauchen, ihrem Gott begegnen können und spüren: Ich bin noch da. Ich bin noch ich. Es gibt Hoffnung und Zukunft.“

Eine Kirche könne Anker eines Heimatgefühls sein, besonders für Menschen mit einer verlorenen Heimat, betonte Schiermeyer.

Bedeutung des Nationalfeiertags

Christian Neumann, 1. Vorsitzender der Dokumentationsstätte und Superintendent des Kirchenkreises Norden stellte in seiner Begrüßung der rund 50 Besucher den Nationalfeiertag und seine Entstehungsgeschichte in den Mittelpunkt seiner Betrachtung.

75 Jahre Grundgesetz

Der Mannheimer Historiker Dr. Tim Müller war eingeladen, um vor dem Hintergrund der Staatsgründung vor 75 Jahren zu sprechen: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, die zweite deutsche Demokratie, wurde genau vier Jahre nach der Kapitulation des Deutschen Reiches und dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes am 8. Mai 1949 verabschiedet und am 23. Mai verkündet.

Müller erinnerte in seinem Vortrag an die Demokratiewerdung und skizzierte die großen Entwicklungslinien seit der ersten Beratung der vier Mütter und 61 Väter des Grundgesetzes am 1. September 1948. Von vornherein wurde die Menschenwürde, die sich dann auch im Artikel 1 niederschlug, gemeinsam mit den darauf aufbauenden Grundrechten in den Mittelpunkt gerückt. Dies stellte eine Selbstverpflichtung dar, die für diese Demokratie von Anfang an da war und an der sich die Realität immer wieder, auch heute, orientieren, messen und kritisieren lassen müsse.

Eine Verfassung allein stelle noch keine Demokratie dar und es gab in der politischen Praxis im Schatten des Kalten Krieges und unter Aufsicht der alliierten Siegermächte viel zu lernen. Demokratie werde letzten Endes von Menschen gemacht. Und ging der Vortrag von der Ideengeschichte in die Praxis über: Demnach benötige Demokratie Konflikte, welche einer weiteren wichtigen Zutat – dem Bürgersinn – nicht entgegenstehen: Bürger fragen demnach nicht lediglich, was der Staat für sie tut, sondern bringen sich aktiv in Politik und Zivilgesellschaft ein.

Als weiteren Erfolgsfaktor der bundesdeutschen Demokratie benannte Müller die Erinnerungskultur, die die eigene Geschichte von Vernichtungskrieg und Völkermord als Teil der demokratischen Kultur angenommen hat und aufarbeitet. Dies steuere viel zur Begründung der Menschenwürde als Alltagswert bei. Erinnerungsarbeit lokaler Initiativen, Gedenk- und Dokumentationsstätten, die oftmals auch individuelle Schicksale in den Blick nehmen, benannte er als Bastion der Menschenwürde.   

Müllers Appell lautete: „Wir alle wissen, wenn die Menschenwürde angetastet wird. Wenn es nicht mehr Recht und Ordnung oder was auch immer ist, was im politischen Konflikt verhandelt wird, sondern wenn die Würde von Menschen verletzt wird, wenn sie entwertet werden. Wir spüren es sofort. In der Politik wie im Alltag. Und im Alltag ist unser Mut gefragt. Mut, Zivilcourage, Eintreten für die Menschenwürde – das ist von jedem von uns gelebte Demokratie.“

Veranstaltung mit guter Tradition

Inzwischen hat die Veranstaltung am Tag der Deutschen Einheit eine gute Tradition: Nachdem in den vergangenen Jahren bereits der syrisch-palästinensische „Pianist aus den Trümmern“ Aeham Ahmad, Gábor Lengyel, Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, oder der Niedersächsische Minister für Wissenschaft und Kultur, Falko Mohrs, in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld zu Gast waren, folgte in diesem Jahr der Mannheimer Historiker Dr. Tim B. Müller der Einladung in die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld.